Das Unheil nimmt bereits im Winter seinen Lauf. Das Jahr 1910 beginnt mit viel Schnee. Hoch- und Tiefland werden mit einem dickwandigen Schneemantel bedeckt. Am 20. Januar, morgens um 8.00 Uhr, stürzt die Bristenlawine in ungewöhnlicher Grösse zu Tal und füllt das Reussbett bis zu einer Höhe von 20 Metern. Das Reusswasser staut sich 6 Stunden lang zu einem See. Um 12.00 Uhr beginnt das Wasser über den Lawinenkegel zu fliessen. Eine Stunde später wird der ganze Wall von dem gestauten Wasser durchbrochen. Eine ungeheure Flutwelle ergiesst sich plötzlich talabwärts. Innerhalb von 5 Minuten läuft der ganze Stausee ab, sämtliche Brücken und Winterstege reussabwärts, die nicht aus Eisen oder Stein bestehen, werden fortgerissen. Die Wuhren selbst nehmen, mit Ausnahme an der Plattibrücke, wenig Schaden. Die fertiggestellten 200 Meter langen Reussdämme bewähren sich und halten dem ersten Hochwasser des Jahres stand.
Rüfe im Bannwald fordert zwölf ToteWas der Frühling begonnen, setzt der Frühsommer fort. Der Juni verspricht dann endlich eine milde Witterung. Tauwetter setzt in den Bergen ein. Am 12. Juni gesellt sich jedoch ein warmer Regen dazu, der bis in die hochalpine Gletscherregion hinauf die Schneeschmelze beschleunigt. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1910 setzen über dem unteren Reusstal und dem Schächental starke Gewitter ein. Das Unglück nimmt nun seinen Lauf. Im Altdorfer Bannwald bringt der durch die lang anhaltenden Regengüsse angeschwollene Milchbach im Kapuzinertal das angehäufte Geröll in Bewegung. Zwei Rüfen gehen nieder, die dritte zerstört um 1.00 Uhr nachts auf Brunegg das Haus der Familie von Briefträger Josef Ziegler. Die Ehefrau und zehn Kinder werden durch die Gewalt der Natur getötet. Eine Tochter kann lebend aus den Schuttmassen geborgen werden, stirbt jedoch am gleichen Tag im Fremdenspital. Zwei Knaben überleben unverletzt wie auch der Vater und die älteste Tochter, da sie in der Unglücksnacht nicht zu Hause waren. Vater Josef Ziegler verrichtete als Briefträger im Postgebäude den Nachtwächterdienst. Die älteste Tochter Agnes hatte eine Anstellung in Flüelen. Die Katastrophe nimmt an mehreren Orten im Urner Unterland und Schächental ihren Fortgang. Das Unwetter sollte jedoch keine Menschenleben, sondern nur noch immensen Sachschaden fordern. Eines wird bald klar: Es ist die grösste Hochwasserkatastrophe seit 1861.
Lesen Sie den ausführlichen Artikel in der gedruckten UW-Ausgabe vom Samstag, 5. Juni!Rolf Gisler-Jauch