Der dominante Berg und das unbekannte Tal

Der Meiggelenstock ist mit seinen 2416 Metern kein Riese, überragt aber das obere Reusstal.
22.07.2011
Wer durch das mittlere Reusstal hinauffährt, sieht ihn spätestens ab Intschi. Je weiter wir nach Süden fahren oder wandern, desto dominanter kommt er ins Blickfeld. Ab dem Pfaffensprung erscheint in seinem Schatten die Kirche von Wassen. Der Meiggelenstock ist mit seinen 2416 Metern kein Riese, überragt aber das obere Reusstal. Bei guter Sicht sehen wir auch das Kreuz, das seit 50 Jahren auf dem Vorgipfel steht. Am Fuss lag vor dem Autobahnbau das Gut Meiggelen, dessen Name sich laut Namen- und Mundartwörterbuch von «mäugglä» (dämmern, vor allem am Abend) herleitet und eine Stelle bezeichnet, die eher düster wirkt und im Schatten liegt.

Unsere Wanderung beginnt bei der Haltestelle Wattingen, hinter Wassen, auf 930 Meter über Meer. Wir überqueren den Rorbach, der im Mittellauf für das Kraftwerk Wassen gefasst wird. Vom Forststrässchen aus sehen wir die Kapelle St. Josef und auf der anderen Talseite die Häuser von Wattingen. Die Eisenbahnbrücke über das Rortal wurde in eine Betonröhre eingeschlossen, damit die gefürchtete Rortallawine keine Schäden anrichten kann. Durch dichten und schattigen Fichtenwald mit Lichtungen voll von Himbeeren und Holundersträuchern erreichen wir die Rüti, wo ein älteres Gebäude in ein Ferienhaus umgebaut wurde. Hier haben wir die Waldgrenze erreicht, denn nun wandern wir durch Vogelbeeren und Grünerlen mit einem dichten Hochstaudenunterwuchs über Farneren zum Rorgrund auf 1939 Meter über Meer. Links unten schäumt der Rorbach in einer Schlucht.

Das Tal weitet sich und öffnet sich zu einem wahren Amphitheater in Grau und Weiss. Der steile Aufstieg durch kurze Rasen und Schutt führt uns zum Weg, der vom Bandlückli und der Salbithütte SAC herkommt. Die letzten Meter zum Gipfel sind ziemlich steil, aber gut begehbar. Alle Wege auf der ganzen Wanderung sind in sehr gutem Zustand und perfekt markiert. Kobi Calcagni verbringt einen grossen Teil seiner Freizeit im Ror und am Meiggelenstock und unterhält die Wege und Markierungen. Wir könnten das Gebiet auch «Kobis Land» nennen. Ohne seine Freiwilligenarbeit wäre das Ror noch unbekannter und verlassener. Die Aussicht ist überwältigend, vom Gemsstock über den Rienzen- und Bristenstock schweift der Blick auch zur, das Reusstal überragenden, Kleinen Windgälle im Nordwesten. Der nördliche Abschluss des grossen Runds bildet das Höreli über Wassen. Im Hintergrund erhebt sich das Rorspitzli, über das man Skitouren in den Kartigel und nach Meien unternehmen kann.

Nach dem kurzen Abstieg zu den Rorplatten wandern wir über vom Gletscher abgeschliffene Granitfelsen und viele Bäche auf etwa 2200 Meter über Meer zur Nordseite des weiten Kessels. Im Hintergrund sehen wir den stark zurückgeschmolzenen Gletscherrest. Über eine kurze Steilstufe erreichen wir den Langsee und noch weiter oben den Gross See. Mit dem Chli See bilden diese Seen in einer kargen und steinigen Gegend eine mystische Landschaft, die mit Nebelschwaden zusammen beinahe Angst einflössen könnte. Sie wurden schon 1763 als «ziemliche und gar tiefe Seen» bezeichnet. Die beiden oberen Seen liegen in felsigen Karnischen, die bis vor wenigen Jahrhunderten vergletschert waren. Am Ufer des Sees bemerken wir einen flachen Platz für Fischercamps, denn hier werden Fische ausgesetzt und natürlich auch gefangen. Im Ror halten sich einige Schafherden auf, die den spärlichen Graswuchs nutzen.

Vom Gross See können wir zum Rorgrund und auf der linken Talseite direkt nach Wassen absteigen. Der Weg ist steil, aber gut begehbar und am Nachmittag ziemlich heiss. Wir besuchen den Chli See, der idyllisch auf einer Geländeterrasse liegt. Wir umrunden das Höreli und bestaunen die senkrechten Granitwände über und die steilen Lawinenrunsen unter uns. Die ersten Lawinenverbauungen im oberen Entschigtal stammen aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts und bestehen aus kunstvoll aufgeschichteten Mauern. In den letzten 50 Jahren wurden sie durch Brücken und Rechen ergänzt, zwischen denen Gebüsche und niedrige Nadelbäume aufkommen. Neben der Jägerhütte auf Riederen sehen wir die Reste der Seilbahn, mit der von Feden, im vorderen Meiental, Arbeiter und Baumaterial für die Verbauungen transportiert wurden. Durch den schattigen Fichtenwald im Dorfbannwald mit wechselnden Aussichten auf Wassen und das obere Reusstal erreichen wir in der Schanz die alte Sustenstrasse und das Dorf Wassen.

Die Wanderung sollte nur bei sicherem Wetter unternommen werden. Sie ist abwechslungsreich, erfordert eine gute Kondition und Bergerfahrung. Die Wanderung dauert, je nach Abstiegsroute, 6 bis 7 Stunden und kann auch in umgekehrter Richtung begangen werden.

Walter Brücker


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