Die Geschichten und Schicksale berühren

1250 Premierenbesucherinnen und -besucher waren sich einig. «D'Gotthardbahn» in Göschenen ist ein Theatervergnügen der Extraklasse.
10.07.2007
Die Bürgerwehr auf der einen Seite, die Gewehre im Anschlag. Die streikenden Bauarbeiter auf der anderen: Die Situation eskaliert. Schüsse! Vier italienische Mineure fallen tot zu Boden, eine einheimische Frau eilt fassungslos auf den Schauplatz und umarmt ihren Geliebten, der regungslos am Boden liegt.
Es ist die erschütterndste Szene im Freilichtspiel «D'Gotthardbahn» und beruht auf einer wahren Begebenheit. Am 27. Juli 1875 streikten die Mineure, die den Gotthard-Bahntunnel bauten für bessere Arbeitsbedingungen. Die Bürgerwehr schoss den Aufstand nieder. Vier Arbeiter starben, mehrere wurden schwer verletzt. Nach diesem Ereignis wurden Untersuchungen über die hygienischen und sozialen Verhältnisse der Arbeiter ausgelöst, und diese brachten bedenkliche Zustände an den Tag.

2000 Mineure, 350 Einwohner

Der Bau des Tunnels von 1872 bis 1882 war ein riesiger Einschnitt in das Leben der Menschen am Gotthard. 350 Einwohnerinnen und Einwohner lebten in der kleinen Urner Gemeinde Göschenen, als auf einen Schlag ein Mehrfaches an Tunnelarbeiter hinzukam und ein Jahrzehnt blieb - manchmal über 2000 Mineure gleichzeitig. Die Bevölkerung musste sich mit der Situation arrangieren.
Genau davon handelt das Freilichtspiel «D'Gotthardbahn» aus der Feder von Autor Paul Steinmann. Einigen Einwohnerinnen und Einwohnern fällt es leicht, sich zurechtzufinden, andere hadern. Diese Zerrissenheit zeigt sich im Theaterstück durch die Familie Tresch auf eindrückliche Art und Weise. Ihr Schicksal widerspiegelt das Schicksal vieler Einhei-mischer zur Zeit des Tunnelbaus. Während Hermine Tresch (Heidi Danioth), Sohn Jakob (Jérôme Arnold) und Tochter Josy (Amy Jauch) schnell mit der neuen Situation zurechtkommen, kann sich Vater Wendel Tresch (Roger Arnold) mit der Lage nicht anfreunden und hadert bis zum Schluss.

Starke Bilder

Aufgrund der Thematik beinhaltet das Stück nicht nur leicht verdauliche Kost, auch wenn es an lustigen Augenblicken keineswegs mangelt. Grossmutter Tresch beispielsweise, die «einfach nicht gehen will», sorgt für manchen Lacher. Und was die Stimmung anbelangt, ist das Theaterspektakel am Nordportal des Gotthard-Bahntunnels kaum zu überbieten. Es war ergreifend, wenn die Kran-kenschwes-tern für Grossmutter Tresch das «Gegrüsst-seist-du-Maria» beteten, während sich die Mineure prozessionsartig in den Stollen begaben, nicht wissend, ob alle das Tageslicht wieder erblicken würden, und im Hintergrund die mächtige Schöllenenschlucht in der Abenddämmerung immer dunkler wurde. Überhaupt arbeitet Regisseur Stefan Camenzind mit starken Bildern. In der letzten Szene, nach dem Durchstich, begeben sich alle Spielerinnen und Spieler Richtung Tunnel. Fort aus Göschenen. Und jetzt?

Themenvielfalt

Ein Raunen geht durch das Publikum, wenn der Gotthardpost-Fünfspänner auf die Bühne fährt - wie bei den «D'Gotthardposcht»-Aufführungen in Andermatt. Vergleichbar sind die Stücke indes nicht, auch wenn grösstenteils die gleiche Crew hinter der Aufführung steckt. «D'Gotthardbahn» ist anders, weniger beschwingt, dafür mit mehr Tiefgang. Die Themen sind vielschichtig: die Verlockungen des Geldes, die Vorurteile gegenüber dem Fremden, die Ausbeutung der Arbeiter, die Geschäftemacherei, die Überforderung der Menschen. «Wenn ihr sofort zurück in den Tunnel geht, vergessen wir das Ganze, und alles bleibt beim Alten!» Dieser erbärmliche Versuch von Ingenieur Lusser (Werner Biermeier), den bevorstehenden Streik noch abzuwenden, ist symp-tomatisch.

La più bella donna di Göschenen

Nicht nur der Streik fordert seine Opfer. Überhaupt verursacht der Bau des Jahrhundertbauwerks viele Tragödien. Viele der mehr als 11 000 Italiener, die von Baubeginn bis zur Eröffnung am Tunnel arbeiteten, verunfallten oder starben an den Folgen der katastrophalen hygienischen Verhältnisse. Es gab aber auch andere Opfer: zerrüttete Familien und Beziehungen, Kranke, Alkoholsüchtige ...
Auch die Liebesgeschichte fehlt im Theaterstück nicht. Luigi Perusso, fantastisch gespielt von Mauro Galati, verliebt sich in die junge Josy Tresch, nachdem zuvor viele einheimische Damen seinem italieni-schen Charme erlegen waren. «La più bella donna di Göschenen», dieses Kompliment dürften wohl viele Göschenerinnen von ihm erhalten ha-ben. Doch die Liebesgeschichte findet vorerst kein Happy End. Josy Tresch scheint über die durch den Streik verlorene Liebe nicht hinwegzukommen.

Ein Gesamtkunstwerk

Die Aufführung in Göschenen besticht als Gesamtkunstwerk. Das Spielgelände auf dem Ausbruchmaterial, das vor 125 Jahren aus dem Gotthardtunnel transportiert worden war, war der optimale Ort für dieses Schauspiel. Die Leistungen der Schauspielerinnen, Schauspieler und Statisten verdienen grosse Anerkennung. Regisseur Stefan Camenzind und sein Team haben es verstanden, das Publikum fast drei Stunden lang zu faszinieren. Verschiedene Schauplätze auf der Bühne erlaubten, ohne Unterbruch von der Beiz ins Büro des Ingenieurs, an den Familientisch der Treschs, in die Unterkunft der Arbeiter, dann wieder auf die Piazza zu «zappen». Das ergab ein flottes Spieltempo. Gewohnt auf hohem Niveau und mit viel Liebe fürs Detail waren die Bühnenbilder von der Burkart und Pfaffen Dekorationsbau GmbH.
Mehr als eine Begleitung war das Orchester mit den Kompositionen von Rafael Baier, dem musikalischen Leiter des Freilichtspiels. Wie bei einer Filmmusik wurden Emotionen auf der Bühne verstärkt oder gar erzeugt. Viel Gänsehaut dürften auch die von Sandra Lussmann-Arnold, welche die mystische Gestalt Amalia spielte, gesungenen Soli verursacht haben. Das Premierenpublikum vom 6. Juli zeigte sich begeistert und emotional berührt.

Und jetzt die Neat

Den Aktualitätsbezug braucht man bei «D'Gotthardbahn» natürlich nicht lange zu suchen. Während in Gö-schenen vom Jahrhundertbauwerk des 19. Jahrhunderts erzählt wird, spielen sich ein paar 100 Meter weiter unten ähnliche Geschichten ab: im Jahrhundertbauwerk des 21. Jahrhunderts, der neuen Alpentransversalen durch den Gotthard. Es ereignen sich ähnliche und andere Schicksale, Freundschaften werden geschlossen, gehen in die Brüche, Tragödien spielen sich ab, Kostenvoranschläge werden massiv übertroffen. Und auch hier die Unsicherheit der Bevölkerung: Was nach der Eröffnung?

Markus Arnold


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