Die Wanderung beginnt bei der Bergstation der Luftseilbahn Brügg-Biel auf 1630 Metern über Meer. Benützt man die Seilbahn aufs Ratzi kann man am frühen Morgen noch im Schatten die Chinzig Chulm erreichen. Von der Bergstation Biel steigen wir zur Bergkapelle Bruder Klaus hinauf, queren einen von mehreren Bächen gegliederten Hang und bewegen uns auf die hellen Kalkwände zu, die den Weg nach Norden scheinbar versperren.
Schon bald ist die kleine Kapelle, die oben auf dem Chinzigpass thront, unschwer zu erkennen. Ende September 1799 kämpfte sich ein über 20 000 Mann starkes Heer, unter der Führung des Generalissimus Suworow, über den Pass in Richtung Muotatal. Schnee, Schlamm und eine völlig unzureichende Ausrüstung liessen die Soldaten keine guten Worte für unsere herrliche Bergwelt finden. Nach einer guten Stunde erreichen wir die für den Wanderer offene Schutzhütte auf der 2073 Meter hohen Chinzig Chulm. Sollte jemand die Hütte aufsuchen müssen, weil garstiges Wetter ihn dazu zwingt, ist von einem Weiterwandern in Richtung Gamperstock abzuraten. Denn im Nebel ist eine Orientierung in der nun folgenden Karstlandschaft extrem schwer.
Bei schönem Wanderwetter aber haben sie bald ein absolutes Highlight vor sich. War in der Anfangsphase unserer Wanderung, in schieferigem Gestein, Wasser keine Mangelware, wird es bei der Umrundung des Gamperstocks sehr trocken. Ohne genügend Trinkreserven könnte diese Rundtour vielleicht nicht optimal in Erinnerung bleiben. Vom Kinzigpass steigen wir gute 100 Meter in östlicher Richtung auf dem Wanderweg abwärts und müssen beim Beginn der neuen Strasse aufpassen, dass wir den blauweiss markierten Wanderweg, der rechts abbiegt, nicht verpassen. Die Markierungen wirken recht unterernährt und es empfiehlt sich immer die nächste Markierung im Gelände mit den Augen vorausschauend zu suchen.
Die nächsten 500 Meter geht es zuerst in südöstlicher Richtung aufwärts bis wir den grasbedeckten Gamperstock als Richtungsweiser vor uns haben. Ein Weg ist keiner vorhanden. Die Markierungen führen uns durch Grashalden, die stark von Fels durchsetzt sind. Helle, leicht nach Norden abfallende Kalkschichten dominieren die nun folgende Landschaft. Auf Schritt und Tritt folgt eine vom Wasser und Kohlensäure gestaltete einmalige Felswüste. Fein ziselierte Kleinformen, Miniaturgebirgen gleich, Spalten und messerscharfe, kantige Kalkgesteine säumen unseren Weg. Eine Rast mitten im Karstgebiet lohnt sich und ein kleiner Rundgang ohne Rucksack erschliesst einem ein Eldorado von Lösungsformen, die in den letzten 10 000 Jahren, seit der letzten Eiszeit, geschaffen wurden.
Man muss sich förmlich losreissen, um den Weiterweg um den Gamperstock wieder aufzunehmen. Bei der Querung der Karstfelder ist Vorsicht geboten, denn ein Sturz ist sehr schmerzhaft. Wir umrunden den Gamperstock im Norden. Im Juli wird unser Weg gesäumt von einem bunten Teppich schönster Alpenblumen. Östlich des Gamperstocks steigen wir in südlicher Richtung hinauf bis zum Grätli, 2190 Meter über Meer. Das südliche Schächental mit seiner Felsformenvielfalt liegt zu unseren Füssen. Ein Anstieg auf den rund 100 Meter höheren Gamperstock ist fast ein Muss. Man steigt am besten durch die Ostflanke, knapp unter dem Südostgrat, weglos in Richtung Gipfelkreuz. Eine prachtvolle, einmalige Rundsicht lohnt diese finale Willensanstrengung.
Zurück beim Grätli steigt man links haltend durch einen kurzen Kamin auf die nächsttiefere Terrasse. An einigen grossen Kalkblöcken vorbei wandern wir weiter, werfen einen Blick auf die ausgedehnten Lawinenverbauungen oberhalb Sidenplangg, und drehen nach rechts ab in Richtung obere Gisleralp. Die meisten Alpen auf dem Weg vom Biel zur Gisleralp sind Privatalpen - im Unterschied zum Alpgelände nördlich der Chinzig Chulm. Die Rinderalpen Seenalp und Mat-ten, wie auch die Kuhalpen Wängi, Rindermatt und Galtenäbnet sind im Besitz der Korporation Uri. Das Urner Alpgebiet greift im Norden bis fast auf 1200 Meter in das anschliessende Muotatal hinunter.
Auf der Fahrstrasse von der Oberen Gisleralp in östlicher Richtung absteigend finden wir bald die Wegweiser, die uns zur Seilbahn Ratzi führen.
Max Rothenfluh