Das hat es in Göschenen noch nie gegeben. Nicht weniger als 18 Künstlerinnen und Künstler haben sich zum Thema «125 Jahre Gotthardbahn» ihre Gedanken gemacht und ihre Ideen kreativ verwirklicht. Auf mehrere Standorte und Gebäude im Dorf verteilt, können die künstlerischen Umsetzungen bis am 1. September bewundert werden. Am Samstag, 7. Juli, lud Arturi, die Interessengemeinschaft Urner Kunstschaffender, als Projekt-initiantin zur Vernissage ein. Beim Kaverneneingang der Kraftwerk Gö-schenen AG konnte Andreas Gross seitens Arturi neben Josef Arnold, Regierungsrat, und Trudi Banholzer, Gemeindepräsidentin von Göschenen, auch viele Kultur- und Tourismusvertreter begrüssen.
«Sprungbrett» und zahlreiche SponsorenDie neun Künstlerinnen und neun Künstler haben alle ihren Beitrag zu dieser besonderen Ausstellung geleis-tet. Ein Dankeschön gebührte der Gemeinde Göschenen, der Kraftwerk Göschenen AG und den SBB für die Zurverfügungstellung der Räumlichkeiten. Christian Gross dankte auch den zahlreichen Sponsoren sowie der Organisation Sprungbrett (vormals AM Uri) für die bereitwillige Hilfestellung. Josef Schuler, Kulturbeauftragter des Kantons Uri, stellte das umfangreiche Projekt mit den einzelnen Arbeiten ins künstlerische Licht.
Den Anfang machte Nikolaus Lenherrs akustische Installation «Durchfahrt», in der während 9 Minuten - so lange dauert eine Reise durch den Gotthard-Eisenbahntunnel - Gedanken, Wünsche und Hoffnungen ge-äussert werden und als «Reverenz an ein his-torisches Monument» gelten sollen. Das Werk von Gabi Haas schafft eine Verbindung mit dem Instinkt der Zugvögel und der unersättlichen Reiselust und dem Fernweh des Menschen.
Zeitgemässe Kunst in verschiedener AusdrucksformMarianne Kuster leistet mit ihrem in der Göschenerreuss schwimmenden Floss, beladen mit weissen Koffern, eine Huldigung an Einheimische und Fremde, die so schwierige Situationen zur Zeit des Bahnbaus bewältigt haben. Auch Thomas Dittli hat das Vorhandene mit eigenen und zeitgenössischen Fragen handwerklich umgesetzt. Entstanden ist der Wegweiser «Lang ist Signal», der in den Seiten-stollen der Kraftwerkkaverne führt und im Felsinnern auf die Vielfalt und Unterschiede hinweist. Im gleichen Stollen hat Pascal Murer seine Spurenverbindungen zwischen Herkunft und Vision geknüpft. Lässt die Felszeichnung nun ein Liebespaar oder die Umgestaltung des menschlichen Körpers erahnen?
Eines heruntergekommenen Gebäudes hat sich Heidi Arnold angenommen. Dem einstigen Hotel de la Gare- wurden sinnbildlich die Augen mit gelben Matten verdeckt, als wäre dem alten Bauwerk der Blick auf Äusserlichkeiten verleidet. Innere Einblicke gewährt hingegen das Hotel Gotthard, wo Iris Baumann mit zwei Videomonitoren - exakt beim Stammtisch platziert - Porträts über Menschen und ihre Geschichten zeigt. Kein Graffiti, sondern eine offiziell erlaubte Textarbeit verwirklichte Sonja Kreis am Lifthaus neben der ehemaligen Verladerampe. Mit grossen roten Lettern und in zwei Sprachen fragt die Künstlerin nach der Befindlichkeit des Gotthardpasses. Für eine Installation der besonderen Art sorgt auch Bruno Murer. Er platzierte gegenüber dem Bahnhof einen offenen Güterwagen, der randvoll mit Neat-Ausbruchmaterial angehäuft ist. Zwei Röhren sind so in den Gesteinskegel eingefügt, dass der Durchblick die Sicht auf das Tunnelportal freigibt. Mit dieser Installation soll auf die «Stollenarbeit» des Sehvorganges verwiesen werden.
Zwischen Augenlinsen und Netzhaut versinnbildlicht sich das «Umbruchmaterial des Berges». Ein vergängliches Kunstwerk schufen Nathalie Bissig und Annemarie Oechslin mit ihrer überdimensionalen Sandburg. Ein Regendach schützt den Miniaturberg vor einer vorzeitigen Zerstörung. Franziska Furrer stellte ihre Überlegungen in Richtung «Überfluss und Vergissmeinnicht». In Form zerschnittener Veloschläuche, die wie schwarze Haare über die Fensterbänke einer Baracke wachsen, soll der überquellende Neuzeit-Fortschritt dargestellt werden.
Im Kontrast dazu nimmt sich die Darstellung im Lagerraum mit unzähligen an Wand, Boden und Decke geklebten Post-it-Zetteln an. Hier stellt sich die Frage: «Lässt sich das Bewährte mit dem Fortschritt verbinden, ohne dass Seele und Gemeinschaft Schaden nimmt?»
Kunstrundgang gibt Denkanstösse«Gebogen», so bezeichnet Mundi Nussbaumer sein rotes Stahlelement, das er auf dem Brückenlager der Eisenbahnbrücke platzierte. Sein farblicher Kontrast zum stählernen Brückenbogen ist augenfällig. Das reichhaltige Schaffen von Louis Lussmann lädt im Atelier im Bahnhofsgebäude zum Betrachten und Besinnen ein. Etlichen Foto-Grafiken und Bildern dienten die Berge, Felsen und Schluch-ten des Gotthards als Vorlage.
Angel Sanchez führt in seiner Fotoarbeit «Rynächt II» seine Langzeitreportage über den Wandel im Rynächt weiter. Wie vor 125 Jahren in Göschenen wird heute im Reussboden vor Erstfeld Bahngeschichte geschrieben. Auch Adriana Stadler nimmt das Bild der Unbeständigkeit auf. Halbierte «Reussbollen», durch den Fluss in Jahrtausenden abgerundet, aber in wenigen Minuten künstlich durchtrennt, präsentieren die Steine nun ein ungewohntes Bild. «Die schwankende Anordnung steht im Gegensatz zum schweren Material des Granits.» Daniel Wicki wiederum hat sich im ehemaligen Kassahäuschen auf der Verladerampe künstlich eingenistet. Seine Installation schafft wohltuende Distanz: «Ein Jemand sitzt hier drin, ordnet, sammelt Bilder und Fotos von Tieren, Häfen und Boten. Eine Zeitinsel ist entstanden.»
Für Josef Schuler ist die Arturi-Ausstellung nicht «linear, eingleisig wie Bahn, Tunnels und Strassen, vielmehr gewährt der Kunst-Rundgang eine Pause, gibt aber auch Denkanstösse». Auch das von Luca Schenardi geschaffene Plakat deutet das Linienförmige und Durchkreuzte an. Andreas Wegmann verlegte ein 56 Meter langes PVC-Rohr in der alten Kirche. Als Blasinstrument benützt und elektronisch verstärkt, können mit dieser Röhre extrem tiefe Töne im Subkontrabassbereich bis etwa 16 Hertz, der Frequenz des SBB-Stromnetzes erzeugt werden.
Röhre zum Klingen gebrachtDer international bekannte Saxofonist Urs Leimgruber wagte bei der Vernissage auch gleich das Exempel, indem er die Röhre sprichwörtlich zum Röhren beziehungsweise zum Klingen brachte. Im Verlauf dieser einzigartigen musikalischen Darbietung wurden auch Kontra- und Bassklarinetten eingesetzt.
Die reichhaltige Ausstellung lädt bis am Samstag, 1. September, zum Besuchen, Entdecken und Erleben ein. Geöffnet ist sie am Mittwoch, Freitag, Samstag und Sonntag, jeweils von 14.15 bis 19.00 Uhr.
Georg Gamma