Fabienne Tresch übt einen typischen «Männerberuf» aus: Sie ist Polymechanikerin. Mit ihrer Berufswahl ist sie eine Exotin in Uri, denn nur knapp 9 Prozent aller Schulabgängerinnen lernen einen technischen Beruf wie Fabienne Tresch. «Ich wollte schon immer einen handwerklichen Beruf machen», so die Göschenerin. Sie hörte nicht auf Leute, die ihren Berufswunsch nicht ernst nahmen, und ging ihren eigenen Weg. «Ich hatte überhaupt keine Probleme bei der Stellensuche, ich konnte sogar zwischen mehreren Angeboten auswählen.»
Erster Kanton mit dieser KampagneSeit dem vergangenen Donnerstag, 18. September, läuft im ganzen Kanton Uri die Kampagne «My Top Job», die von der Bildungs- und Kulturdirektion lanciert wurde. Mit dieser Kampagne möchte der Kanton mehr junge Frauen für technische «Männerberufe» gewinnen. «Wir sind der erste Kanton, der solch eine Kampagne durchführt», erklärt Josef Renner, Leiter der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung. Mit der Kampagne «My Top Job» soll die breite Öffentlichkeit sensibilisiert werden. Die umliegenden Kantone zeigen Interesse am Urner Projekt. «Die anderen ländlichen Kantone haben genau die gleichen Probleme wie wir in Uri», so Josef Renner. «Daher könnte es durchaus sein, dass unsere Kampagne auch dort Anklang findet.»
50 Prozent der Mädchen wählt zwischen vier BerufenDie meisten Mädchen im Kanton Uri haben es schwieriger als Knaben, nach der Schule eine Lehrstelle zu finden. Regierungsrat Josef Arnold will auf diese Problematik aufmerksam machen: «Gerade einmal 62 Prozent aller Urnerinnen finden nach der Schule eine Lehrstelle, während es bei den Knaben immerhin 79 Prozent sind.» Nur gerade 3 Prozent aller männlichen Jugendlichen müssen nach dem Schulabschluss ein Zwischenjahr machen. Bei den Mädchen sind es sogar 19 Prozent. Diese Zahlen machen Josef Arnold als ehemaligen Lehrer «sehr betroffen». Ein Grund für diese extremen Unterschiede ist, dass die Hälfte der Mädchen in Uri nur zwischen den vier Berufen Kauffrau, Detailhandelsassistentin, Fage (Gesundheitsberuf) und Coiffeuse aussucht.
Die andere Hälfte der Urnerinnen entscheidet zwischen 30 Berufen, obwohl es im Kanton eigentlich über 100 verschiedene Berufsmöglichkeiten gibt. Josef Arnold kann sich diese Tendenz folgendermassen erklären: «Für die Mädchen im Kanton Uri ist der Schritt in die Berufswelt traditionell schwieriger, da in der Gesellschaft eine fixierte, einseitige Rollenverteilung der Berufe herrscht.» Dadurch, dass viele Mädchen denselben Berufswunsch haben, können viele negative Folgen auftreten: Es entsteht ein Druck auf die Jugendlichen. Absagen sorgen für Orientierungslosigkeit, und allenfalls kann eine ungenaue Neuorientierung zur falschen Berufswahl führen. «Genau diese Folgen sind nicht gut», betont Josef Arnold. «Die Mädchen müssen ihre Identität finden können, und zwar ohne diesen enormen Druck.»
Keine Männer- und Frauenberufe mehrZiel der Kampagne ist es, junge Frauen und ihr Umfeld zu motivieren, das herkömmliche Denken über die verschiedenen Berufe zu verlassen und ein neues Blickfeld zu eröffnen. «Wir wollen den Mädchen zeigen, dass es heute schon einige Urnerinnen gibt, die einen Männerberuf lernen», erklärt Josef Arnold. «Der Kanton möchte erreichen, dass es keine Männer- oder Frauenberufe mehr gibt, sondern nur noch den richtigen Beruf für jeden einzelnen.» Die Flyer und Plakate zeigen junge auszubildende Frauen, die einen untypischen Beruf erlernen. So wird man auf den Plakaten von einer Industrielackiererin, einer Automechanikerin oder von einer Gipserin angelächelt. «Bisher haben wir zehn junge Frauen porträtiert, die einen ungewöhnlichen Beruf erlernen, und in Zukunft werden noch einige dazukommen», verrät Josef Renner.
Die Bildungs- und Kulturdirektion will mit der Kampagne aber keinesfalls Berufe gegeneinander ausspielen. «Es gibt keine guten und schlechten Berufe», erklärt Regierungsrat Josef Arnold. «Der Entscheid für einen technischen Beruf soll bewusst gefällt und nicht nur deshalb gewählt werden, weil das Stellenangebot dort grösser ist als bei anderen Berufen.» Die Kampagne soll erreichen, dass junge Menschen ihre Berufschance packen und jeder Jugendliche seinen eigenen «Top Job» wahrnehmen kann. «Die Mädchen sollen zudem erkennen, dass sie gerade in technischen Berufen viele verschiedene Weiterbildungsmöglichkeiten haben», fügt Josef Arnold an. «Sie können nach der Ausbildung studieren oder sich weiterbilden lassen. Diesen Blickwinkel sehen viele nicht.» Auch Fabienne Tresch möchte nicht immer auf dem Beruf Polymechanikerin bleiben. «Nach der Lehre mache ich die Matura, und dann gehe ich an eine technische Hochschule», so die 18-Jährige.
13 lernten «Männerberuf»Es benötigt Zeit, um die Leute zum Umdenken zu bewegen, ist sich Josef Renner sicher. «Daher müssen wir auch weiterhin hartnäckig dranbleiben und uns für die jungen Frauen im Kanton Uri einsetzen.» Die Bildungs- und Kulturdirektion macht schon seit längerer Zeit Vorträge und Informationsveranstaltungen für Schülerinnen und Schüler zur Berufswahl. Offenbar hat dieser Einsatz bereits Früchte getragen: 2002 lernten fünf Mädchen einen «Männerberuf», 2008 sind es bereits 13. «Wir hatten noch nie so viele junge Frauen in technischen Ausbildungen wie heute», zeigt sich Josef Arnold zuversichtlich. Auch Ursula Schmucki, Ausbildungsverantwortliche der Dätwyler Schweiz AG (DAG), sieht nur Vorteile, wenn Mädchen einen «Männerberuf» erlernen. «Ich habe festgestellt, dass auszubildende Frauen bei uns sehr starke Schülerinnen sind. Zudem haben sie das Arbeitsklima im Team positiv verändert.» Bei der DAG, dem grössten Urner Ausbildungsbetrieb, gab es bisher nur ein Mädchen, das eine technische Lehre abgebrochen hat. «Wir haben jährlich rund 60 Lernende, da kann so etwas vorkommen. Schliesslich ist es das Wichtigste, dass sich die jungen Frauen in ihrem Beruf wohlfühlen.» Ursula Schmucki ist sich sicher: «Wer sich einen für sich zugeschnittenen Beruf aussucht und sich darin wohlfühlt, ist immer erfolgreich.»
Martina Regli