Im Frühling oder im Herbst ist das Südwärtswandern quer durch zwei der gewaltigsten Verkehrshindernisse im Kanton Tessin schlechthin beeindruckend. Elegant durchrast der heutige Verkehrsstrom eine Landschaft, die früher zu den grössten Herausforderungen im Säumerverkehr südlich des Gotthards zählte.
Wir beginnen unsere Wanderung beim Dazio Grande in Rodi-Fiesso, dem Zollgebäude der Urner aus dem Jahr 1561, welches in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts restauriert wurde. Südlich des Parkplatzes des Restaurants führt ein markierter Fussweg, der Circùito Piottino, dem Bach entlang nach Süden. Nach rund 10 Minuten biegt der alte Saumpfad nach Osten ab. An den Resten des alten Zollgebäudes vorbei erreicht man bald die höchste Stelle des alten, zum Teil noch gut erhaltenen Wegs in einem wunderbaren, vollkommen stillen Waldabschnitt. Kaum zu glauben, dass in unmittelbarer Nähe zur Nationalstrasse, Kantonsstrasse und Eisenbahnlinie ein Ort der Stille eine kleine Nische findet.
Bald senkt sich der Weg gegen Süden, und von einer Felskanzel blickt man fasziniert auf die Zufahrten des nördlichsten der vier Kehrtunnels in der Leventina. Beim Weiterabstieg darf man den links abzweigenden Wanderweg nicht verpassen, der zum Südeingang der Piottinoschlucht führt. Seit Ende des 20. Jahrhunderts ist die Piottinoschlucht wieder bestens passierbar. Die alte, zwischen 1555 und 1561 von den Urnern erbaute Strasse, die erst 1934 durch die neue Kantonsstrasse ersetzt wurde, ist in den Neunzigerjahren wieder grossartig hergerichtet worden. Nur noch bei kräftigem Regen kann sich ein wirklich kalter Schauer den Rücken abwärts Platz schaffen, denn nur unter misslichen Wetterbedingungen erlebt man den Fluss Ticino als bedrohliches Wildwasser. Bei Rodi-Fiesso wird der Fluss Ticino gestaut und ein Grossteil des Wassers durch Röhren nach Lavorgo und weiter nach Personico geleitet und genutzt. Die Piottinoschlucht ist dort entstanden, wo die relativ gut erodierbaren Bündnerschiefer oberhalb Rodi in die harten Gneise der Lucomagnodecke übergehen. Zurück beim Dazio Grande lohnt sich ein kurzer Besuch des Museums im Innern des Gebäudes, das auf anschauliche Art Passverkehr, Eisenbahnbau und Geschichte miteinander verknüpft. Für diese erste Rundwanderung muss man eine gute Stunde einsetzen. Rodi-Fiesso kann mit dem Postauto von Airolo aus leicht erreicht werden.
Das Felssturzgebiet der Biaschina. Südlich von Faido, beim Ort Lavorgo 615 Meter über Meer, beginnt die zweite Wanderung, die uns auf der westlichen Talseite durch Nivo und hinauf nach Chironico führt. Weiter steigt man durch Kastanienwälder, vorbei an der Kirche San Pellegrino, zum bereits mitten in Rebbergen stehenden Giornico hinunter. Die ganze Wanderung führt durch eine prähistorische Bergsturzmasse, die vor allem im Bereich von Chironico mit riesigen, über hausgrossen Gneisblöcken den Wanderer zum Staunen bringt. An der höchsten Stelle der Wanderung von Nivo her, kurz vor Chironico beim Punkt 787 Meter auf der Landeskarte, lohnt sich ein Abstecher nach Osten in das Bergsturzgelände. Am schmucken Ort Chironico vorbei geht es weiter auf alten Wegen in das 400 Meter tiefer liegende Giornico. An einigen Stellen sieht man die grossartige Überwindung der Steilstufe zwischen Giornico und Faido durch den modernen Verkehr. Die beiden Kehrtunnels sind etwas vom Eindrücklichsten, was man im 19. Jahrhundert im europäischen Bahnbau realisiert hat. Im 20. Jahrhundert wurde mit dem Biaschina-Viadukt der A2 erneut ein Meisterwerk verwirklicht. Das Viadukt ist mit 110 Metern über dem Talgrund das zweithöchste Brückenbauwerk der Schweiz. Das neuste, einmalige Bahnbauwerk des 21. Jahrhunderts mündet nur etwas weiter südlich, das Südportal der Neat, kurz vor Biasca. Der Gegensatz zwischen den Bauwerken aus vergangenen Zeiten, der Doppelbrücke und den Kirchen von Giornico und der Kirche San Pellegrino mit ihrem leider stark verblassten Uristier an der Ostfront und diesen modernen Bauwerken könnte nicht grösser sein. Bei einem anschliessenden Grottobesuch lässt sich gut über 500 Jahre Bau- und Verkehrsgeschichte philosophieren.
Max Rothenfluh