Witzige und derbe Attacke auf patriotische Mythen

In Anspielung an den berühmten Till Eulenspiegel hat man am Samstag, 7. August, im Tell-Museum in Bürglen kritische und ungewohnte Dinge von Tell zu hören bekommen. Mit «Herr Till im Wattigwilerturm oder Wilhelm Tell für Einheimische» gelangte eine weitere Premiere des diesjährigen ...
09.08.2004
ogramms zu den Altdorfer Tellspielen zur Aufführung. Der von Martin Stadler verfasste und von Gregor Vogel glänzend gesprochene Monolog fand grossen Anklang.

Die Gedanken zu unserem Nationalhelden hinterliessen am vergangenen Samstag bei den Besucherinnen und Besuchern im Tell-Museum in Bürglen einen besonders nachhaltigen Eindruck. Unter den geladenen Gästen weilten Landammann Josef Arnold, Regierungsrat Markus Züst und Vertreter der Gemeinden Bürglen und Schattdorf.

Den Spiegel vor die Augen halten

Der bekannte Schalknarr Till Eulenspiegel aus Braunschweig verkörperte im 13. Jahrhundert die derb-ironische und moralisierende Seite des Menschentums. Sein Witz basierte auf klugen Einfällen. Damit hielt er den Menschen den Spiegel vor Augen. Genau dies beabsichtigte der Urner Autor Martin Stadler mit seiner witzigen und derben Attacke auf patriotische Mythen. Die Confoederatio Helvetica und Wilhelm Tell werden in vielen Belangen hinterfragt. Die ausgebildete Schauspielerstimme von Gregor Vogel verlieh den Texten in den Räumen des Museums besondere Brisanz. Hier bekamen die kritischen Worte neben den alten Ölgemälden und Utensilien Tells eine ungewöhnliche Bedeutung. Man musste einfach zuhören und beipflichten als Schweizer und noch vielmehr als Urner; denn die Optik war durchaus urnerisch.
Der Regisseur der Tellspiele, Louis Naef, hat mit diesem Rahmenprogramm einen weiteren Glanzpunkt gesetzt. Er hat nämlich die Urfassung des Prosatextes von Martin Stadler in den Monolog umgeschrieben und die Regie übernommen. Für die Kostüme war Bernadette Meier verantwortlich, die aber diesmal in den historischen Räumen wenig zu verändern hatte. Die drei Stockwerke bildeten den Hintergrund für Gregor Vogels geschichtliche Eskapaden. Die 40 Minuten, in denen man Till durch die Räume des Museums folgte, lohnten sich auf jeden Fall.

Dem Tell-Museum fehlt der Bezug zur Wirklichkeit

Der ehrenwerte Tell würde sich wundern, wofür er den Gessler erschossen hatte. Der hochgelobte Transitverkehr hat die Urner inzwischen längst mit Abgasen und Lärm «geschunden». Die grosse Standuhr im Wattigwilerturm ist seit 200 Jahren still. Man setzt auf Sportlerpokale und nicht auf die vielen Armbrüste im Museum, obwohl die ganze schweizerische Werbung darauf aufbaut. Tell auf dem Sockel sollte immer als Mahner gelten: «Tu Schweizer deine Pflicht, dann stirbt die Freiheit nicht!», rief Till im Museum in die Runde. Doch die meisten Leute wüssten nicht, dass Tell noch eine andere Heldentat begangen haben soll, nämlich die Rettung eines Kindes aus dem Schächen, wobei er sogar das eigene Leben verloren habe. Ebenfalls sei den meisten nicht bewusst, dass Tell in keiner einzigen Sage vorkomme, obwohl diese die Seele des Volkes sei.
Im Volk haben das Kreuz und der «Tyyfel» eine weit wichtigere Stellung eingenommen als Tell. Und doch, wenn der von borromäischer Kultur geprägte Till nach Jahren in den Kanton Uri zurückkehrt, trifft er Tell auf Schritt und Tritt. Seit der Uraufführung von «Wilhelm Tell» in Weimar sei aber die Geschichte Tells zweckorientiert, hinausorientiert und in einer Legende hineinorientiert worden, meinte Till. Das älteste Bündnis der Täler geht auf das Jahr 1258 zurück, an dem der Wattigwilerturm vielleicht noch gar nicht existierte. Hier wird aber heute der Apfelschuss in allen Variationen gezeigt, der angeblich den Startschuss zur Eidgenossenschaft gab. In der Confoederatio stehe aber, dass nur Unbesonnene dreinschlagen. Besonnene setzen besonnenes Recht um. Diese Confoederatio sei ein innenpolitisches Meisterstück, meinte der gesellschaftskritische Till. Was hätte also ein Unbesonnener wie Tell bei diesen Herren bewirkt? Die Habsburger als habgierige Familienmultis waren den Bestrebungen der Täler zwar ein Dorn im Auge, aber Unbesonnenheit war nicht am Platz. Und so kommen Till die in Öl gemalten Bilder von der Gründungsgeschichte im Tell-Museum wie eine Patrioten-Kinderbibel vor.
Tatsächlich war der legendäre Jäger Tell für die Urner Volksseele unwichtig, nur in einer kleinen, simplen Geschichte erwähnt. Und Till malt sich aus, was mit Tell geschehen wäre, hätte er tatsächlich diese Tat begangen. «Mit einem Apfelschuss gewinnt niemand weder die Unabhängigkeit noch die Zukunft», sagt sich Till. Tell war aber der erste Patriot und Eidgenosse, der mit einem Glorienschein versehen wurde. Noch so viele möchten ihm diesen heute vom Kopfe reissen.

Ruhmreiche Vergangenheit

Nach den wortgewaltigen Gedanken Tills im untersten Stock des Wattigwilerturms von Bürglen gings hinauf in den 2. und 3., wo der Schauspieler aus der Ostschweiz weitere kritische Bemerkungen zur Geschichte und zur Gegenwart machte. Wer dazu Lust verspürt, sollte sich den rund 40-minütigen Monolog auf keinen Fall entgehen lassen.
Im Anschluss an die geschichtliche Gehirnwäsche kann sich der Besucher bei einem ausgezeichneten Urner Menü im Restaurant Schützengarten von den «Ungeheuerlichkeiten» erholen und dann zur Tell-Aufführung nach Altdorf fahren, wo er das Gebotene in seinem Geschichtsverständnis sicher richtig einordnen kann. Martin Stadler ist mit dieser Paraphrase über die Urner Mythen Tell und Teufel ein ausgezeichneter Wurf gelungen, der natürlich durch die schauspielerische Leistung von Gregor Vogel und den historischen Hintergrund des Museums noch gewinnt. Als nachteilig könnte sich die relativ knappe Zeit zwischen dem Besuch im Tell-Museum und der Tell-Aufführung erweisen, da die geballte Ladung an geistiger Kost zuerst verdaut werden muss.

Robi Kuster


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